Beruflich bedingt, habe ich eine Schweigepause eingelegt, aber keineswegs eine Erich-Kästner-Pause! Unser neunjähriger Sohn ist fasziniert von den Kinderromanen Erich Kästners. Er liest sie selbst, er lässt sie sich vorlesen, und das so oft, dass er inzwischen ganze Passagen auswendig zitieren kann. Es klingt für mich fast banal, diese Bücher als „Klassiker“ zu bezeichnen. Was zeichnet sie denn aus? Was macht sie zu Klassikern? Wie kann es angehen, dass sechs Jungen in einem Regionalexpress von Kiel nach Lübeck „Emil und die Detektive“ hören wollten (auf Hin- und Rückfahrt!) und bei jeder Pause, die ich brauchte, um meinen Stimmbändern etwas Flüssigkeit und Ruhe zu schenken, „Weiter, weiter!“ schrieen?
Ich glaube, dass es nicht nur Erich Kästners Verständnis für Kinder ist, die spannende Handlung, die jeden seiner Kinderromane auszeichnet. Sondern er schreibt in seinen Romanen für Kinder mit großer Wahrhaftigkeit. Er liebt die Stadt, in der er lebt, Berlin, er schildert sie voller Gefühl. Er schildert Begegnungen, die jedem Kind einleuchten und Mut geben! Er schreibt über Liebe, Freundschaft und Ehrlichkeit – Gefühle, die jedes Kind bewegen, die auszusprechen aber nicht immer einfach sind.
Zwei Beispiele: „Es war schon dunkel geworden. Überall flammten Lichtreklamen auf. Die Hoch-bahn donnerte vorüber. Die Untergrundbahn dröhnte. Straßenbahnen und Autobusse, Autos und Fahrräder vollführten ein tolles Konzert. … Die Kinos, die am Nollendorfplatz liegen, begannen mit der letzten Vorstellung. Und viele Menschen drängten hinein. „So ein großer Baum …“ meinte Emil, „ kommt einem hier ganz ulkig vor. Nicht? Er sieht aus, als hätte er sich verlaufen.“ Der Jun-ge war bezaubert und gerührt.“ (Emil und die Detektive)
„Der Kummer packte den Jungen im Genick und rüttelte ihn hin und her. Der Justus stand erschro-cken daneben. Er wartete eine Weile. Er wusste, dass man mit dem Trösten nicht zu früh anfan-gen darf.“ (Das fliegende Klassenzimmer)
Ich könnte noch manches andere Beispiel bringen, will mich aber den Gedichten zuwenden!
Hier sind sie:
Der März
Sonne lag krank im Bett,
sitzt nun am Ofen.
Liest, was gewesen ist.
Liest Katastrofen.
Springflut und Havarie,
Sturm und Lawinen,-
gibt es denn niemals Ruh
drunten bei ihnen?
Schaut den Kalender an.
Steht drauf: „Es werde!“
Greift nach dem Opernglas.
Blickt auf die Erde.
Schnee vom vergangenen Jahr
blieb nicht der gleiche.
Liegt wie ein Bettbezug
klein auf der Bleiche.
Winter macht Inventur.
Will sich verändern.
Schrieb auf ein Angebot
aus andern Ländern.
Mustert im Fortgehn noch
Weiden und Erlen.
Kätzchen blühn silbergrau.
Schimmern wie Perlen.
In Baum und Krume reget
sich`s allenthalben.
Radio meldet schon
Störche und Schwalben.
Schneeglöckchen ahnen nun,
was sie bedeuten.
Wenn Du die Augen schließt,
hörst du sie läuten.
Der April
Der Regen klimpert mit einem Finger
die grüne Ostermelodie.
Das Jahr wird älter und wird täglich jünger.
O Widerspruch voll Harmonie!
Der Mond in seiner goldnen Jacke
versteckt sich hinter dem Wolken-Store.
Der Ärmste hat links eine dicke Backe
und kommt sich ein bisschen lächerlich vor.
Auch diesmal ist es dem März geglückt:
Er hat ihn in den April geschickt.
Und schon hoppeln die Hasen,
mit Pinseln und Tuben
und schnuppernden Nasen,
aus Höhlen und Gruben
durch Gärten und Straßen
und über den Rasen
in Ställe und Stuben.
Dort legten sie Eier, als ob`s gar nichts wäre,
aus Nougat, Krokant und Marzipan.
Der Tapferste legt eine Bonbonniere.
Er blickt dabei entschlossen ins Leere.
Bonbonnieren sind leichter gesagt als getan.
Dann geht es ans Malen. Das Dauert Stunden.
Dann werden noch seidene Schleifen gebunden.
Und Verstecke gesucht. Und Verstecke gefunden:
Hinterm Ofen, unterm Sofa,
in der Wanduhr, auf dem Gang,
hinterm Schuppen, unterm Birnbaum,
in der Standuhr, auf dem Schrank.
Da kräht der Hahn den Morgen an!
Schwupp, sind die Hasen verschwunden,
Ein Giebelfenster erglänzt im Gemäuer.
Am Gartentor lehnt und gähnt ein Mann.
Über die Hügel läuft grünes Feuer
Die Büsche entlang und die Pappeln hinan.
Der Frühling, denkt er, kommt also auch heuer.
Er spürt nicht Wunder noch Abenteuer,
weil er sich nicht mehr wundern kann.
Liegt dort nicht ein kleiner Pinsel im Grase?
Auch das kommt dem Manne nicht seltsam vor.
Er merkt gar nicht, dass ihn ein Osterhase
Auf dem Heimweg verlor.